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Polen und die Ukraine zittern seit Monaten einem Ereignis entgegen, das ihre Nachbarschaft auf eine schwere Probe stellen wird: Im Juli wird es 70 Jahre her sein, dass Ukrainer zur Zeit der deutschen Besatzung etwa 100.000 polnische Zivilisten ermordeten. Polnische Vergeltungsaktionen kosteten danach etwa 10.000 Ukrainer das Leben.
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Wolhynien, der Nordwesten der heutigen Ukraine, war einmal ein buntes Land. In dieser Region von der Größe Bayerns lebten vor allem Ukrainer, daneben Polen, Juden und Deutsche. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt wurden 1939 die Wolhynien-Deutschen umgesiedelt: „Heim ins Reich“. Zwei Jahre später wurden die Juden ermordet: „Endlösung der Judenfrage“. Übrig blieben die Ukrainer und die Polen.
Die Menschen hatten bereits viel Blut gesehen. 1943, nach der Schlacht von Stalingrad, war zu erwarten, dass die Machtverhältnisse sich bald wieder ändern würden. In dieser Lage kam es, weitab von den Fronten, zu einem Verbrechen, das im Westen Europas bis heute fast unbekannt ist.
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Wer überlebte, bezeugte schreckliche Szenen. Der Pole Jerzy Krasowski erinnert sich: „Wir fanden einen entsetzlichen Anblick vor. Ein wenige Jahre alter Junge war am Tor auf einen Pfahl gespießt worden … Vor der Türschwelle lagen die Leichen von Männern und zwei Frauen, die grausam mit Äxten zerhackt worden waren.“
Die Mörder kamen in der Nacht
Ein ähnliches Bild bot sich in Hunderten von Ortschaften: Vom Winter bis in den Sommer 1943 hinein, teilweise auch noch später, griffen ukrainische Partisanen mit Äxten und Spießen, seltener mit Feuerwaffen, polnische Siedlungen an, steckten Gebäude in Brand und töteten Menschen. Zumeist überrumpelten die Angreifer ihre Opfer nachts oder im Morgengrauen. Mehrfach wurden auch während der Gottesdienste katholische Kirchen überfallen. Höhepunkt war der 11. Juli, der heutige Gedenktag, an dem 99 Dörfer angegriffen wurden.
Was war geschehen? Die Region hatte vor dem Krieg zu Polen gehört, und die Ukrainer hatten einigen Grund gehabt, sich zu beklagen. Manche griffen damals zum Terror. 1942 geriet die Welt vollends aus den Fugen, als die NS-Behörden westlich von Wolhynien in der „Aktion Zamość” gut 100.000 Polen vertrieben. Dafür siedelten sie Volksdeutsche und Ukrainer an, was die polnisch-ukrainischen Spannungen weiter verstärkte.
Doch der tiefere Grund für das Massaker ist in den Plänen der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und ihres militärischen Arms, der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), zu suchen. Sie hofften, durch einen Aufstand – gegen die deutsche Besatzungsmacht – und die Beseitigung der Polen ihren künftigen Anspruch auf Wolhynien untermauern zu können. Dabei war die Grenze zwischen „Vertreibung“ (so die früheren Konzepte) und „Ermordung” der Polen fließend. Aus Dokumenten, Memoiren und späteren Verhörprotokollen von Partisanenführern haben polnische Historiker das bruchstückhaft rekonstruiert.
Polen riefen die Wehrmacht zu Hilfe
So kam es zu den Angriffen auf Dörfer, die manchmal zu ungewohnten Allianzen führten: Die polnischen Einwohner riefen die Wehrmacht zu Hilfe oder verbündeten sich mit sowjetischen Partisanen. Die Wehrmacht, die in ihrem Besatzungsgebiet Ruhe haben wollte, griff in manchen Fällen tatsächlich ein. „Außerdem gab es von deutschen Stellen eine Anweisung für die Verhandlungen der Wehrmacht mit der UPA: Die UPA solle als Gegenleistung für eine Zusammenarbeit die Verfolgung der Polen beenden“, sagt der Hamburger Historiker Frank Golczewski.
Insgesamt wird die Zahl der polnischen Opfer in Wolhynien, Galizien und anderen angrenzenden Gebieten auf bis zu 100.000 geschätzt. Daraufhin war die polnische Bevölkerung viel eher bereit, sich nach dem Einrücken der Roten Armee nach Westen „umsiedeln“ zu lassen – vor allem nach Schlesien, von wo bereits zahlreiche Deutsche geflohen waren.
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Bereits seit zehn Jahren arbeiten Politiker und Intellektuelle in Polen und der Ukraine an der Aufarbeitung des Blutbads. In mehreren Orten wurden Leichen exhumiert und von Geistlichen beider Seiten feierlich bestattet. Ukrainer wurden geehrt, die sich dem Massaker widersetzt und polnischen Nachbarn Zuflucht gewährt hatten.
Schwierig wird es, wenn die große Politik ins Spiel kommt. Der polnische Senat hat jetzt die Massaker als „ethnische Säuberung mit den Zügen eines Völkermords“ verurteilt. Ukrainische Medien haben das kritisch kommentiert. Offenbar ist die Verständigung zwischen beiden Ländern noch schwieriger als früher die deutsch-polnische: Die UPA-Kämpfer aus der Zeit des Weltkrieges werden heute von vielen Ukrainern als Helden verehrt, vor allem, weil sie nach 1945 gegen die sowjetische Herrschaft Widerstand leisteten.
„Wir bitten um Vergebung“
Am Mittwoch wird das Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine, Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk, in Polen erwartet. Zuletzt hatten die Kirchen beider Länder versucht, sich auf eine gemeinsame Erklärung zu einigen und darin die Botschaft der polnischen an die deutschen Bischöfe von 1965 zu zitieren. Ihr Kernsatz lautete: „Wir vergeben, und wir bitten um Vergebung.“
Die gemeinsame Botschaft scheiterte jetzt wegen dieses Satzes – offenbar am Widerstand eines polnischen Erzbischofs, der von den Ukrainern mehr „Einsicht“ in ihre Schuld erwartet. Jetzt wird Großerzbischof Schewtschuk diese Worte allein aufgreifen. Er hat das Massaker von Wolhynien als ethnische Säuberung bezeichnet.
In Warschau soll am 11. Juli mit großem Zeremoniell ein Ort des Gedenkens an die Opfer von Wolhynien eingeweiht werden. Einer der Organisatoren verrät im Gespräch seine Erwartungen: „Bis sich diese Sache zwischen Polen und Ukrainern eingerenkt hat, werden noch zehn, 20 Jahre vergehen.“